Home > Drama, US-Produktion > Erzählen in der fünften Dimension

Erzählen in der fünften Dimension

Zwei aktuelle Serien wagen erzählerische Experimente, die ich aus mehreren Gründen für gleichermaßen fruchtbar wie gefährlich halte: „The Missing“ (BBC1/Starz, gerade sind fünf von acht Folgen gelaufen) und „The Affair“ (Showtime, sieben von zehn Episoden waren schon zu sehen).

Beide Serien arbeiten nämlich mit unterschiedlichen Ebenen, auf denen erzählt wird: „The Missing“, angelehnt an die Ereignisse um das Verschwinden von Madeleine McCann 2007, erzählt eher konventionell auf zwei Zeitebenen abwechseln einmal vom Verschwinden des fünfjährigen Oliver Hughes während eines Urlaubs in Frankreich im Jahr 2006 und von den unmittelbar daran anschließenden Ereignissen, und zum anderen von Tony Hughes (James Nesbitt), Olivers Vater, der in der Gegenwart, also acht Jahre später, immer noch nach seinem Sohn sucht.

In „The Affair“ dagegen, von den Machern der brillanten Psychoanalyse-Serie „In Treatment“ (HBO 2008 – ’10), wird die gleiche Geschichte aus zwei verschiedenen Perspektiven erzählt (und auch hier gibt es eine zweite Zeitebene). Nämlich aus denen von Noah („The Wires“ Dominic West) und seiner Geliebten Alison („Orange is the New Blacks“ Ruth Wilson). Das heißt konkret: innerhalb der (fast) 60 Minuten einer Episode wird in der Regel in den ersten 30 Minuten eine Story aus Noahs Sicht erzählt, und dann die gleiche Story noch einmal, aber aus Sicht von Ruth — und zwar nicht selten mit deutlichen Unterschieden, meist eher kleinen (andere Kleidung, unterschiedliche Tageszeit, andere Außenwirkung einzelner Figuren), manchmal aber auch großen (es passiert etwas entscheidend Anderes).

Dieses Erzählmuster ist deutlich ungewöhnlicher als das von „The Missing“; so ungewöhnlich, dass die Macher es auch innerhalb der Serienlogik motivieren müssen (während „The Missing“ das nicht muss): Wir sehen nämlich sowohl Noah als auch Ruth bald getrennt von einander bei einer polizeilichen Einvernahme — sie erzählen den Hergang ihrer Affäre also einem Kommissar, was Mehreres bedeutet: zum einen sind die unterschiedlichen Erinnerungen womöglich tatsächlich einfach honest mistakes, wie sich zwei verschiedene Menschen eben an die gleichen Ereignisse unterschiedlich erinnern. Es ist aber auch möglich, dass beide eine eigene Agenda haben, sich anders darstellen wollen oder gar etwas verheimlichen — denn es geht ja nun offensichtlich nicht mehr nur um die Geschichte einer Affäre, sondern auch um einen Kriminalfall. Auch wenn man lange nicht erfährt, worum genau.

Dieser Kunstgriff ist durchaus fruchtbar: es hält einen als Zuschauer gefesselt, wie die selben Figuren in der Außenwirkung deutlich anders sind als in der Selbstdarstellung. Zum Beispiel hält Noah sich in seinen Berichten für viel charmanter, als er in den Erzählungen von Ruth rüberkommt, während sie in seinem Gedächtnis verführerisch und bereit zu einem Flirt ist, während sie sich selbst eher als Aschenputtel, unattraktiv und traurig schildert.

Er ist aber auch sehr einengend, ein erzählerisches Korsett, das irgendwann zu drücken anfängt. 60-Minuten-Episoden sind sehr lange, und sobald man durchschaut hat, dass die zwei Protagonisten/Erzähler hin und wieder erratisch berichten, droht das Prinzip schnell, in seiner Dominanz langweilig zu werden. Darum tun die Macher Sarah Treem und Hagai Levi auch gut daran, die Struktur aufzubrechen und zu variieren: nicht nur wird dann einmal eine Geschichte in umgekehrter Reihenfolge erzählt (zuerst Ruth, dann Noah), sondern es wird auch eine einstundenlange Geschichte durcherzählt, nur dass der erste Teil Noah zur Hauptfigur hat und der zweite Teil Ruth.

Trotzdem wird sich noch erweisen, ob und wie sehr dieses Experiment ermüdet — spätestens bei der zweiten Staffel werden sich Treem und Levi etwas handfest Neues einfallen lassen müssen, sonst droht das Gleiche, das mir bei „In Treatment“ passiert ist: ich fand die erste Staffel fantastisch, war aber vom Erzählprinzip (das dort auf sehr viele Folgen pro Staffel hinauslief, die erste hatte 43) zu erschlagen, als dass ich die zweite durchgehalten hätte.

Davon abgesehen ist „The Affair“ allerdings überwiegend gut bis sehr gut: nicht nur spielen West und Wilson jeweils sehr gut (obwohl ich ihnen hin und wieder nicht abnehme, wie sehr sie voneinander angezogen sein sollen), auch darf West wieder gegen seinen alten „The Wire“-Widersacher John Doman antreten, der hier seinen stinkreichen Schwiegervater spielt. Dass das Hauptaugenmerk der Serie von der psychologischen Studie eines Familienvaters, der (wie er selbst sagt) ohne rechten Grund anfängt, im Urlaub seine Frau zu betrügen, und seiner Geliebten, die nicht über den Tod ihres Sohns hinwegkommt, weg gelenkt wird in Richtung eines Kriminalfalls, ist ebenfalls klug: denn das gibt der Serie erst die Spannung, die einen wirklich wissen lassen will, welche Folgen die Mesalliance von Ruth und Noah hat — juristisch wie familiär.

(Größter Schwachpunkt von „The Affair“ dürfte der grauenhafte Vorspann sein. Schlimmer ist nur das Jazzgedudel von „Homeland“. Warum legt Showtime offenbar Wert darauf, sich als Sender mit den furchtbarsten opening credits zu profilieren?!)

„The Missing“ hat andere Probleme (und einen tollen Vorspann): denn hier dürfen wir als Publikum zwar dabei zuschauen, wie ein Puzzle zusammengelegt wird, bei dem neue Puzzleteile in der Vergangenheit mit Teilen in der Gegenwart zusammengesetzt ein überraschend anderes Bild als erwartet ergeben. Aber durch die Informationen, die wir im Gegenwarts-Strang bekommen, geht auch ein Teil der Spannung auf der Ebene der Vergangenheit verloren. Wir wissen ja schon, dass Tony seinen Sohn 2006 nicht wiederfinden wird, dass sein Zerwürfnis mit einem französischen Polizisten 2006 nicht von Dauer sein wird, weil der ihm (obwohl mittlerweile im Ruhestand) in der Gegenwart wieder helfen wird, nach Oliver zu suchen, und dass Figuren, die 2006 in Lebensgefahr geraten, diese Situationen überleben werden, weil wir sie 2014 schon gesehen haben.

Das führt dazu, dass die Serie einerseits zwar emotional sehr dicht erzählt ist (Nesbitt ist großartig als verzweifelter Vater), hin und wieder aber durchhängt, weil wir dem suchenden Vater 2006 einfach zu weit voraus sind mit unserem Wissen. Oder besser gesagt: dass die Serie durchhing, denn mittlerweile haben Harry Williams und Jack Williams einen neuen Dreh gefunden, etwas Unerwartetes zu tun, indem sie das Prinzip zwar nicht brechen, aber doch verbiegen (wie, werde ich natürlich nicht verraten).

„The Missing“ besticht neben seiner anspruchsvollen Erzählweise durch seine Bilder: enorm düstere Locations (gedreht in Belgien), glaubwürdig gealterte Charaktere abhängig von der Zeitebene (offenbar war es den Machern wichtig, schon durch die Maske auf den ersten Blick klar zu machen, ob wir uns gerade im Jahr 2006 oder 2014 befinden) und ein heftiges Thema (Pädophilie und Kindsmissbrauch), das ohne Klischees und einfache Feindbilder erzählt wird.

Hoffentlich dürfen Williams und Williams diese Geschichte zuende erzählen, hoffentlich gibt es hier kein offenes Ende (das bei „The Affair“ schon abzusehen ist, weil eine zweite Staffel bereits in Auftrag gegeben worden ist) — diese Geschichte schreit einfach nach einem würdigen und erwartbar traurigen Ende. Denn anders als bei „Happy Valley“, das im Widerspruch zur abgeschlossenen Story fortgesetzt werden wird, gibt es hier nicht einmal eine Polizistenfigur, die auch in einem neuen Fall ermitteln könnte. Es gibt nur die zutiefst betroffenen Eltern, von denen ein Teil weitersuchen will, während das andere bereit wäre, mit der Vergangenheit abzuschließen. Und wie den Eltern geht es auch mir bei „The Missing“: lieber ein Ende mit Schrecken als ein offenes Ende ohne closure.

Beide Serien aber verschieben schön die Grenzen des Erzählens, wie man sie aus dem Gros der Serien kennt, die sich an erprobte lineare Erzählgesetze halten. Während „The Affair“ dafür eine inhärente Begründung mitliefert, kommt „The Missing“ bislang ohne äußeren Grund für seinen ungewöhnlichen Ansatz aus. Beide Serien aber profitieren von ihrer Bereitschaft zum Experiment — und sind also wieder einmal schöne Beispiele dafür, dass es noch innovative Fernsehformate gibt, dass das Medium Fernsehen das momentan sich am schnellsten entwickelnde ist, und wie viel Spaß Formate machen können, die ihre Zuschauer im Zweifel lieber über- als unterfordern.