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Die Banalität des Guten

5. Februar 2019 Keine Kommentare

Als „Bürokraten mit Waffen“ beschreibt der Anthropologe David Graeber in seinem Buch „Bürokratie. Die Utopie der Regeln“ (Klett-Cotta 2016) Polizisten und erklärt den enormen Bedarf unserer Gesellschaft an Polizei- und Kriminalfiktion ganz schlicht mit dem Fetisch, der unser aller Leben mehr bestimmt, als wir es gerne wahrhaben möchten: mit Bürokratie.

Will heißen: Graeber diagnostiziert — noch bevor er sich in seinem nächsten Buch explizit auf die „Bullshit-Jobs“ stürzt, die einen Gutteil der aktuellen Lohnarbeit ausmachen — eine horrende Verwaltungsapparatur am Werk, die uns verpflichtet, Regeln zu befolgen, die wir nur noch zu einem Bruchteil verstehen (Steuererklärung, „Akzeptieren“-Buttons, Mobilfunkverträge, Altersvorsorge, Projektmanagement), und dann Berichte über die Ausführung von Regeln und die zukünftige Anwendung von Regeln anzufertigen, was im Wesentlichen alle in den Wahnsinn treibt, auch wenn sie es nicht merken.

Allein dass Universitätsmitarbeiter mittlerweile einen beachtlichen Teil ihrer Arbeitszeit nicht mehr mit Forschen und Lehren verbringen, sondern mit Anträgen und Verwaltung, die auch die Ergebnisse noch gar nicht begonnener Untersuchungen schon im Vorhinein wissen möchten, um finanzielle Mittel zu bewilligen, sollte einen zum Haareraufen bringen: denn das bedeutet nichts anderes, als dass sich die Wissenschaft längst der Verwaltung, dem Bürokratentum gebeugt hat und von ihm abhängig ist statt andersherum.

Graeber kaut auf diesem Gedanken mit den schönsten Ergebnissen herum, aber mich haben vor allem seine Ausführungen zur Popkultur fasziniert und seine Erklärung, warum Science Fiction in den Sechzigerjahren eines der bestimmenden Genres war (und warum die Föderation in „Star Trek“ im Prinzip eine leninistisch-kommunistische Militärdiktatur abbildet), es aber seit dem Übergang einer produktionsbestimmten Gesellschaft in eine Informationsgesellschaft eher ein anderes Genre ist, das uns begeistert: nämlich Krimis.

Denn der Siegeszug von immer demokratischeren Modellen brachte ein Problem mit sich: Die Frage, was das Volk eigentlich will. Datenerhebung, Auswertung, Verwaltung, Gremien, Meetings, „Management“. Anträge, Projektbeschreibungen, Kästchenankreuzerei. Mit einem Wort: immer überbordendere Bürokratie — die sogar das Militär schlussendlich in die Knie zwingt, siehe die derzeitigen Probleme bei der Bundeswehr. Von der Deutschen Bahn mal ganz abgesehen. Oder von Bauprojekten (BER, Stuttgart 21). Es ist die Verwaltung, endlose sinnlose Aktenschubserei, die letztlich alles lahmlegt, die man aber nie wieder los wird, wenn sie sich erst einmal das System unterworfen hat. Die Dirigenten haben das Orchester übernommen, und mittlerweile kommen zwölf Dirigenten auf einen Bratschisten.

Der bewaffnete Arm des demokratischen Staates, der die Durchsetzung von Regeln zur Aufgabe hat, ist der Polizist. Er ist viel mehr mit der Aufgabe betraut, über die Einhaltung der öffentlichen Ordnung zu wachen — und, selbstverständlich, ebenfalls Berichte, Berichte, Berichte zu schreiben. Das nimmt einen viel größeren Teil seiner Arbeitszeit ein als eventuelle Verfolgung von schießwütigen Ganoven oder überhaupt tatsächliche Gewalttätigkeit. Die Hauptaufgabe eines Polizisten ist die Informationsbeschaffung: für seinen Vorgesetzten, für die Staatsanwaltschaft, für die Gerichte.

(Dort, wo die Informationsbeschaffung heimlich zu geschehen hat, ist der Spion zuständig — ein eigenes, dem Krimi aber anverwandtes Genre in der Popkultur.)

Kein Wunder also, dass der Polizist, der Ermittler, der Held unserer bürokratiegeprägten Zeit ist, dem ein nicht zu unterschätzender Teil der Bildschirmzeit im deutschen Fernsehen gehört.

Und umso bedauerlicher, dass wenige Krimis diesem Umstand Rechnung tragen.

Das wurde mir — ich bin wahrlich kein Fan von Krimis — einmal mehr deutlich, als ich gestern den ITV-Dreiteiler „Manhunt“ (2019) gesehen habe, in dem ein wahrer Fall von Anfang der Nullerjahre aufgerollt wurde: der scheinbar wahllose Mord an einer jungen Französin in London, der zur Aufdeckung einer ganze Mordserie an jungen Frauen führte.

Im Mittelpunkt von „Manhunt“ steht der ermittelnde Inspektor (Martin“Doc Martin“ Clunes als DCI Colin Sutton), der so anders ist als andere vergleichbare Kriminaler, dass es eine Wohltat ist: nüchtern, unaufgeregt, sachlich. Weit entfernt von der toxischen Maskulinität eines „Luther“, die in Krimis oft die Heldenhaftigkeit ihrer Hauptfigur illustrieren soll. An Colin Sutton ist nichts Heldenhaftes. Er ordert die Auswertung aller verfügbaren Überwachungskameras in einem riesigen Areal, auch wenn es zehn Beamte drei Wochen in Anspruch nimmt, Bildmaterial auszuwerten, von dem man nicht einmal weiß, was man darauf sucht. Wenn 25.000 weiße Lieferwagen überprüft werden müssen, müssen eben 25.000 weiße Lieferwagen überprüft werden. Wenn Taucher einen halben Fluss nach einem Handy absuchen müssen, muss die Einheit eben den halben Fluss absuchen. Und wenn eine Supermarktquittung von vor vier Jahren ein wichtiges Indiz ist, muss im Supermarktbüro eben auf riesigen archivierten Quittungsrollen nach diesem einen Bon gesucht werden, auf dem 41,35 Pfund für Windeln, Reis und Olivenöl draufstehen.

Es ist, mit anderen Worten, die Banalität des Guten, die hier am Werk ist. Am Ende stellt sich heraus, dass die Mordserie schon vor den letzten Toten hätte beendet werden können, wenn sich nicht ein  — selbstredend bürokratischer — Fehler eingeschlichen hätte.

Dass der Täter ein Monster ist, wird dabei nur sehr am Rande thematisiert: das versteht sich von selbst. Warum er ein Monster (geworden) ist, ist vollkommen unwichtig. Die familiäre Belastung, die dieser Fall für Sutton darstellt, lässt ihn selbst kalt — er ist der preußischste Beamte des Vereinigten Königreichs. So beamtisch, dass er beinah blass wirkt. Die Dramaturgie ist klug genug,  genau diese trockene Ermittlerarbeit zu problematisieren, denn Sutton eckt mit seiner peniblen Art bei Untergebenen wie Vorgesetzten selbstverständlich an.

Aber wenn schon Krimi, dann so: keine Psychologie, keine persönlichen Motive zwischen Täter und Ermittler (wie sie längst nicht mehr nur in Thrillern zuhause sind); wenn schon deutsche Krimis, dann lieber Derrick als Nick Tschiller. Da weiß man wenigstens, dass Horst Tappert in der Waffen-SS war, bevor er so knochentrocken im Münchener Reichenmilieu ermitteln durfte. Die Staatsformen ändern sich, ihre Identifikationsfiguren bleiben gleich.

Gute Krimis aber legen ihre Bürokratenverherrlichung offen. Über die Wucherungen dieser staatlichen Gewalt, die in Großbritannien etwa eine ubiquitäre Videoüberwachung mit sich gebracht hat, darf man da freilich entsetzt sein: Omnibusse mit Kameras, die nicht nur das Innere, sondern auch den Verkehr vor und hinter dem Bus aufzeichnen etwa. Dass man als Zuschauer aber gezwungen ist, diese überwachungsstaatliche Perspektive einzunehmen und sehr stark für Totalüberwachung zu sein, weil sie die Verstöße gegen ihre staatlichen Regeln verfolgen hilft: das ist lobenswert, denn erst dieser innere Konflikt hält mich als Krimizuschauer überhaupt wach.

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