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Archiv für April, 2015

Hethethethethethe the Virgin

Nun sind Telenovelas erst einmal nichts, was in meinem Formen-Repertoire weit oben stünde. Es gibt zwar Daily Soaps auch im deutschen Fernsehen, aber ich sehe sie nie, und selbst wenn: Mit Telenovelas im engeren Sinne haben sie ja auch nicht viel zu tun.

Telenovelas, wie sie aus dem lateinamerikanischen Radio herkommen, haben ursprünglich nämlich einen deutlich anderen Charakter als die rein unterhaltenden Formen, die das Fernsehen heute bietet: Sie waren, neben der Unterhaltung, immer auch Aufklärung, Information und Pädagogik. Die „Archers“, eine britische Radio-Soap, die seit den 50ern läuft (und in der Tamsin Greig zu erstem Ruhm gekommen ist), spielt etwa auf dem Land, und so bot sie neben Entertainment auch stets landwirtschaftliche Handreichungen, indem sie ganz en passant erwähnte, was für den Bauer just zu tun war, welche Pflanzen gesät, welche Felder wie bestellt werden mussten, und welche Figuren mit welchen Tricks erfolgreicher waren als andere.

In Afrika, wo das Radiohören die längste Zeit selbstredend deutlich präsenter war als das Fernsehen, konnte man mit Soaps prima beispielsweise die Nachteile des ungeschützten Sexualverkehrs darstellen, die schrecklichen Auswirkungen von Hexen- und Aberglauben und die Vorteile des Lesens und Schreibens: In einer Soap etwa lernte ein Großvater noch auf seine alten Tage über Wochen und Monate hinweg Lesen und Schreiben, um seinem Enkel in der Ferne einen Brief schreiben zu können — und als es so weit war, füllten sich auch in der realen Welt mit einem Mal die Alphabetisierungsklassen: denn die Identifikation mit fiktionalen Figuren hat eine Macht, die alle Plakatwände und Werbespots alt aussehen lässt.

Telenovelas haben also seit je auch einen stark appellativen Charakter: Sie verhandeln, welche sozialen Tugenden ihrem Träger Ansehen und Respekt verschaffen, welche Verhaltensweisen Sanktionen und Ausschluss nach sich ziehen, mit einem Wort: Sie erklären, was gut ist und was böse, und welche Folgen welches Handeln hat. Deswegen sind Telenovelas oft von überzeichnet guten und bösen Figuren geprägt, religiösen und weltlich-oberflächlichen, von Settings, die dem Alltag der Zuschauer nahe sind, aber von Geschichten, die — vor allem, je länger Telenovelas laufen — dann doch etwas larger than life sind.

Zum Beispiel wäre es nichts ungewöhnliches, dass eine religiöse junge Frau im Mittelpunkt stehnt, nennen wir sie Jane, deren Mutter kaum zwei Jahrzehnte älter ist als sie selbst, und die ihrer Tochter deshalb wünscht, nicht ebenfalls als Teenager schwanger zu werden. Die Tochter ist auch brav katholisch-enthaltsam — und wird aber trotzdem schwanger, weil eine Ärztin mit schwerem Kater ihre Patinentinnen verwechselt und bei der, die sie künstlich befruchten soll, einen Abstrich macht und umgekehrt. Zu allem Überfluss ist der Vater der jungfräulich Schwangeren (ein religiöses Motiv, das stärker kaum sein könnte) ein Frauenheld und ehemaliger Krebspatient. Ach ja, und Janes Chef. Und ihr Teenagerschwarm. Tja, wie es halt so geht im Leben.

Die Prämisse von „Jane the Virgin“ (The CW, seit Oktober 2014) ist genau die, die Verstrickungen und Komplikationen der Serie damit aber noch nicht zu fünf Prozent beschrieben — und das Ganze ist verblüffend komisch.

Denn „Jane the Virgin“ funktioniert auf beiden Ebenen: Auf der einer ziemlich grotesken, aber einwandfrei durcherzählten Serie, die ihre Figuren ernst nimmt und diese Figuren (bis auf Ausnahmen) auch anschlussfähig und realistisch zeichnet — und als, nun ja, weniger Parodie denn Travestie, die die Merkmale des Genres so überhöht, dass Komik entsteht.

Etwa den Erzähler, der mit deutlich lateinamerikanischem Zungenschlag aus dem Off immer mal wieder die Zusammenhänge erklärt (eine Technik, die auch bei echten Telenovelas gewährleisten soll, dass man als Zuhörer nicht den Faden verliert, wenn man mal ein paar Folgen nicht gesehen/gehört hat) — das aber schon fast als Parodie.

Oder die spanischen Dialoge und Namen, die sich für den unbedarften Zuschauer anhören wie die Parodien auf südliche Fernsehshows („Chanel 9 News“) der „Fast Show“: Hethethethethe hethethethethe, sminki pinki, Chris Waddle! Scorchio! Hier heißt die Heldin Jane Gloriana Villanueva, und ihr Vater (von dem sie nichts weiß) Rogelio de la Vega.

Der seinerseits ist in „Jane the Virgin“ ein berühmter Telenovela-Star und eine Figur, die tatsächlich so überzeichnet eitel und schmierig karikiert wird, wie die anderen Figuren straight gezeichnet sind. Sehr zum Vorteil der Show, denn wo schon das Format und der Plot nahe an der Karikatur sind (obwohl gerade die Erzählung der Prämisse dann doch so verblüffend glaubhaft ist, dass man denkt: tja, warum sollte das nicht mal passieren?), da braucht es dann eben umso plausiblere, sorgfältiger, realistischer geschriebene Figuren.

So macht „Jane the Virgin“ weder aus Jane (Gina Rodriguez) noch aus dem Playboy Rafael Solano (Justin Baldoni) noch aus ihrem Verlobten Michael (Brett Dier) Karikaturen, sondern runde, ausgewogene Figuren. Janes Mutter Xiomara (Andrea Navedo) und ihre Großmutter (Ivonne Coll) müssen zwar ein wenig latino-hysterischer sein als Jane, damit Janes „Normalität“ gegen die Zwanghaftigkeit ihrer spätjugendlichen Mutter und ihrer überreligiösen Großmutter abgesetzt werden kann.

Aber es gibt nur wenige allzu verzerrte Charaktere, deren Comedy-Regler auf elf stehen — das „Drama“ in „Comedydrama“ ist da praktisch gleichberechtigt. (Anders als bei, fällt mir gerade auf, „Brooklyn Nine-Nine“, Fox, das zwar eine ähnliche Travestie ist wie „Jane the Virgin“, aber in meinen Augen lange nicht so gut funktioniert, weil eben praktisch alle Figuren Cartoons sind und kaum eine realistisch genug wäre, als dass ich an sie anschließen könnte.)

„Jane the Virgin“ ist, würde ich mal vermuten, auf die zweite und dritte Generation von hispanischen Einwanderern in die USA gemünzt, ein Publikum, das groß genug ist — Robert Rodriguez hat mit El Rey ja bereits einen ganzen eigenen Kanal für Latinos gegründet. Trotzdem (oder, mal wieder, genau deswegen) funktioniert das auch für mich gut: eine ganz distinktive Serie, alles andere als Mainstream, und genau deshalb neu, frisch, originell, eigenständig.

Man muss nicht einmal katholisch sein, um sie zu mögen.

Solidarity forever

Was haben walisische Bergarbeiter und Londoner Homosexuelle gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht viel. Doch zumindest Mitte der 80er hatten sie: den gemeinsamen Feind Margaret Thatcher und die gemeinsame Verfolgung durch Staat und Obrigkeit, namentlich die Polizei. Eine Gemeinsamkeit, die so stark war, dass die englischen Schwulen und Lesben sich organisierten und begannen, aus Solidarität mit den streikenden Minenarbeitern Geld für diese zu sammeln und Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Was, wie man sich denken kann, vor allem auf Seiten der walisischen Kumpel zunächst einmal auf Argwohn stieß.

Das ist die wahre Geschichte, die „Pride“ (2014) zugrunde liegt, der Ende letzten Jahres wohl kurz auch in deutschen Kinos war, mir aber vollkommen entgangen ist. Bedauerlicherweise, denn „Pride“ ist auf Augenhöhe mit Filmen wie „Brassed Off“ (1996) — komisch und kurzweilig, und er gibt einem zumindest für zwei Stunden den Glauben an die Menschheit zurück, wie es nur englische Filme können.

Denn es könnte ja so schön sein: wenn die Menschen erkennten, wie leicht alles wäre, wenn man Seit‘ an Seit‘ stünde. Und wenn schon mal die, die für die Rechte der einen Minderheit kämpfen, sich mit anderen Minderheiten solidarisierten. Wie kann man für die Rechte von Homosexuellen kämpfen, aber nicht für die von Frauen? Wie kann man gegen Rassismus sein, aber nicht gegen Ausbeutung? Unterdrückte aller Couleur müssten doch gemeinsame Sache machen, wenn sie wirklich etwas erreichen wollten.

Das ist der Gedankengang von Mark Ashton (Ben Schnetzer), dem Londoner Schwulenrechtler, der empört ist darüber, dass Margaret „there is no such thing as a society“ Thatcher die 1984 streikenden Bergbauarbeitern am liebsten am langen Arm verhungern lassen würde — und zwar so ziemlich im Wortsinne, denn Thatcher lässt sogar die Konten der Bergbaugewerkschaft pfänden, so dass die Streikenden nicht einmal auf diesem Wege Geldzuwendungen erhalten können, also tatsächlich vor dem Nichts stehen und schließlich vom Hunger getrieben wieder an die Arbeit gehen müssten — wenn nicht auf anderen Wegen Geld herbeigeschafft werden könnte.

Genau daran machen sich Ashton und sein Freund Mike Jackson (Joe Gilgun, „Misfits“ Rudy): Sie gründen L.G.S.M., Lesbians and Gays Support the Miners, und sammeln Geld für die Waliser. Ein walisischer Abgesandter nach London wird freundlich aufgenommen und lädt die Londoner nach Wales ein, und die Schwulen und Lesben schicken tatsächlich eine Delegation aus ihrem Hauptquartier, dem Buchladen „Gay’s the Word“, in die kleine Gemeinde Onllwyn — unter anderem den recht flamboyanten Jonathan (Dominic West). Die treten dort im örtlichen Social Club auf und treffen dort auf die Einheimischen, bei denen Homophobie die Norm ist.

Zum Glück jedoch vermeidet „Pride“ bei allen dramaturgisch vorhersehbaren Konflikten jedes Klischee: Es gibt keine dumpfen Provinzler-Karikaturen, genausowenig, wie es schrille Tunten und lesbische Amazonen auf dem Kriegspfad gibt. Freilich gibt es eine murrende Mehrheit von Konservativen und eine intrigante Schachtel, die diese Mehrheit zu organisieren weiß, und es gibt Frauenrechtlerinnen, die schon mal den Schnabel aufreißen, wenn man besser schweigt — nämlich beim Bingospielen.

Aber die Atmosphäre in „Pride“ ist doch deutlich geprägt von einer freundlichen Annäherung völlig verschiedener sozialer Schichten — or are they? Natürlich sind sie das nicht; einer der Londoner stammt selbst aus Wales und hat die bedrückende Engstirnigkeit seines Elternhauses dort im Schlechten hinter sich gelassen, um nun gegen seine inneren Widerstände dorthin zurückzukehren.

Glücklicherweise vermeidet Stephen Beresford (Drehbuch) genau die Scherze allesamt, die auf die Bestätigung von Klischees aufgebaut hätten. Und das macht „Pride“ wahnsinnig sympathisch.

JUNGE WALISERIN
(zu zwei Londoner Schwulen)
So, you live together like, you know, husband and wife. But what I want to know is …

SCHWULER
I know what you’re going to say.

WALISERIN
Wich one does the housework?

SCHWULER
Oh, well, that’s … that’s not what I thought you was going to say.

Vor allem die walisischen Frauen, allen voran Hefina Headon (Imelda Staunton), finden Gefallen an den jungen Menschen mit dem ungewöhnlichen Lebensstil. Und sie sind es auch, die sich beim nächsten Gegenbesuch in London mit Begeisterung durch sämtliche Gay Clubs führen lassen. Eine Gelegenheit, bei der der Film dann die ganze Fallhöhe zwischen übermütigen Landeiern und schwuler Großstadt-Szene auskostet, bevor er dann wiederum eine ernste Saite anschlägt.

Matthew Warchus (Regie) ist mit einem erstklassigen Cast (vor allem der phantastische Bill Nighy als schüchtern-verstaubter Waliser spielt mit größtmöglicher Zurückhaltung wieder einmal alle an die Wand) ein Film gelungen, dem hierzulande die Aufmerksamkeit versagt geblieben ist, die ihm eigentlich gebührt. Zumindest bei den Filmfestspielen in Cannes hat „Pride“ den Queer Palm Award gewonnen (von dem ich allerdings noch nie etwas gehört habe), und bei Rotten Tomatoes glänzt er mit verdienten 92 Prozent Zustimmung.

Vielleicht liegt die fehlende Aufmerksamkeit in Deutschland daran, dass es eine sehr britische Geschichte ist: zum einen historisch, natürlich, weil die sozialen Unruhen der 80er auf die Gesamtverfasstheit der politisch denkenden Schicht Englands bleibenden Eindruck hinterlassen haben, den man hier nicht voraussetzen kann. Zum anderen aber vielleicht auch, weil es in Großbritannien einen Sinn für Gleichheit und Solidarität gibt, der uns Deutschen fehlt, die wir Solidarität gleich für Kommunismus und jeden Kommunisten für den Leibhaftigen halten.

„Pride“ aber ist ein großer Film über eben das: Solidarität. Da werden Arbeiterlieder gesungen, die einem das Wasser in die Augen treiben, so schön sind sie, Billy Bragg darf „There’s a Power in a Union“ singen, und gerade die Absurdität, die in einer Unterstützung streikender walisischer Bergarbeiter durch Londoner Schwule und Lesben liegt, und dass diese Allianz trotzdem erfolgreich ist, auch wenn der Erfolg primär in eben der Solidarität und der daraus entstehenden Freundschaft zwischen so wesensverschiedenen Menschen liegt — in Wales spricht man angeblich von Mark Ashton immer noch wie von einer Jeanne d’Arc — gerade die Absurdität dieser Freundschaft, dieser Solidarität macht „Pride“ zu einem Film, aus dem der Humanismus nur so herausleuchtet, warm und hell und strahlend. Am Ende marschieren die walisischen Bergarbeiter bei der Gay Pride-Parade in London mit Transparenten vorneweg.

Was aber die Arbeiterlieder angeht: Nicht zuletzt der prima Soundtrack, in dem selbstverständlich auch die ikonographischen schwulen Songs der 80er von Queen über Bronski Beat bis Franky Goes to Hollywood nicht fehlen dürfen, und die sagenhaften Aufnahmen des verschneiten Wales, das hin und wieder fast nach Island oder einem anderen von Elfen und Kobolden bewohnten skandinavischen Land aussieht, machen aus diesem Sozialfilm, den man problemlos auch als „kleinen“ Film hätte inszenieren können, einen richtig großen.