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Unsere Schwestern, unsere Mütter

20. Januar 2014 2 Kommentare

Im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung hat Tobias Rüther gestern in dem lesenswerten Stück „Über uns“ (das ich aufgrund der völlig undurchschaubaren Suchfunktion bei faz.net leider nicht gefunden habe) darüber reflektiert, dass bei allen großartigen amerikanischen Fernsehserien der letzten Jahren leider ein Genre hinten runter gefallen sei: Das der Familienserie. Denn es gebe, so Rüther, zwar allerlei Serien, die durchaus Aspekte des familiären Zusammenlebens schilderten — das aber vorwiegend durch die Brille des Kriminalisten oder Kriminellen. So könne man eben Walter Whites Entwicklung in „Breaking Bad“ schon als die Emanzipation eines Mannes lesen. Aber eine Familienserie, die etwas weniger märchenhaft sei als die von „Downton Abbey“, die fehle halt, zumal im deutschen Fernsehen, völlig.

Nun ließe sich darüber streiten, ob nicht der Subtext von Fernsehserien, den Rüther ja auch erwähnt, in den meisten Serien, manchmal mehr, manchmal weniger deutlich aufs Familiäre, auf die Urform aller Institutionen und Lebenssysteme abhebt: Natürlich bei Sitcoms sowieso, wo der Unterschied zwischen DomComs (also domestic sitcoms, die in der Familie spielen) und CareerComs (die am Arbeitsplatz spielen) oft vielleicht inhaltlich, aber nicht formal sind (siehe das Glossar dieses Blogs), weil es strukturell keinen Unterschied macht, ob man einen verrückten Vater oder einen verrückten Boss hat, dem man ausgeliefert ist, oder ob nebenan ein verstörter Kollege oder Bruder sitzt, an dem man seinen Frust auslassen kann. Bei den „Sopranos“, um nur mal ein Beispiel zu nennen, ist der „Beruf“ ja praktisch schon die Familie, denn so nennt sich die Mafia praktischerweise gleich selbst.

So sagen also viele Serien, denen man es vorderhand nicht ansieht, etwas über den Zustand der Familie aus, insofern die Familie die kleinste Gesellschaft in der Gesellschaft ist. Kleiner Exkurs: Exkulpationsfernsehen wie „Unsere Mütter, unsere Väter“ etwa will, meine ich, den (deutschen) Zuschauer nicht nur von seiner Mitschuld am Dritten Reich mehr oder weniger freisprechen, sondern auch aus seiner Verantwortung für das, was heute so schiefgeht. Es wäre mal interessant, zu untersuchen, wie viele Parallelen sich da auf zeitgenössische Komplexe finden lassen, und ob dieser revisionistische Scheiß nicht auch gleich Persilscheine für die Gegenwart ausstellt: Klar, es gibt ein paar abgrundtief Böse, aber die meisten (von uns) können doch gar nicht anders, als mitzutun, wenn sie nicht untergehen wollen! Dass da ein paar Fremdartige über die Klinge springen — nicht schön, aber was will man machen.

Tobias Rüther aber hätte gerne „eine Serie über junge Paare, oder ältere, die sich den Kopf zerbrechen, wann der richtige Zeitupunkt wäre, ein Kind zu kriegen, und es dann trotzdem versucht [sic]“ — und dem Manne kann geholfen werden. Denn es gibt eine britische Serie, der die Quadratur des oben beschriebenen Kreises gelungen ist: Eine Serie, die am Arbeitsplatz spielt, der seinerseits die Familie repräsentiert, aber mit Familien und Kinderkriegen beschäftigt ist, weil es nämlich um Hebammen geht: „Call The Midwife“ (BBC1 seit 2012; gerade ist die erste Folge der dritten Staffel gelaufen).

„Call The Midwife“ ist in Großbritannien sehr erfolgreich; vielleicht nicht zuletzt aus den Gründen, die Rüther anführt: es besteht enormer Bedarf, genau das Kinderkriegen und seine Bedingungen zu diskutieren. Und das tut die Serie sehr klug und sehr warm.

„Call The Midwife“ erzählt aus der Perspektive der jungen Jenny Lee (Jessica Raine), die im armen Londoner East End der späten Fünfzigerjahre Krankenschwester und Hebamme wird. Sie und ein paar andere Hebammen leben und arbeiten in einem Nonnenkloster (also mit Schwestern, die aber durchweg älter als die Hebammen sind und deshalb eher mütterlich wirken — da wäre er wieder, der Familienbezug), ohne selbst dem Orden anzugehören, und sie gehen in ihrem Sprengel weit mehr Aufgaben nach, als nur der, Kinder auf die Welt zu bringen: Sie kümmern sich schon während und auch nach der Schwangerschaft um die medizinische Versorgung der jungen Mütter, sind nicht selten die einzige Bezugsperson für sie und werden oft Bestandteil der Familien auf Zeit. Geprägt ist das Setting der Serie von den Spätfolgen des Zweiten Weltkriegs: Männer sind oft abwesend und/oder alkoholabhängig, der Lebensstandard äußerst niedrig, ja, es gibt noch Armenhäuser, in denen die Schwächsten der Gesellschaft unter menschenunwürdigen Bedingungen zur Arbeit gezwungen werden.


Klarerweise steht die Medizin der Zeit (und ihre Rückständigkeit) dabei im Mittelpunkt; „Call The Midwife“ gilt als Medical Drama. Das scheint gerade populär zu sein, denn auch das fabelhafte ComedyDrama „Masters of Sex“ (Showtime, 2013) widmet sich der Medizin der Fünfziger, und auch „Breathless“ (ITV, 2013) wählt das Setting einer Entbindungsstation im London dieser Zeit (und erzählt dann, das wird Rüther nicht gefallen, in diesem Rahmen ein Kriminaldrama). Beeindruckend an „Call The Midwife“ ist in diesem Zusammenhang wiederum, wie realistisch die Geburten gezeigt werden — ich zumindest habe so lange jedes Neugeborene für echt gehalten, bis ich im Bonusmaterial der DVDs sehen konnte, wie naturgetreu die Puppen aussehen, die für solche Zwecke entwickelt worden sind. Ziemlich gruselig, die Dinger, soviel kann ich verraten.

Es sieht also alles sehr echt und authentisch aus in „Call The Midwife“. Möglicherweise, weil die Serie auf den autobiographischen Aufzeichnungen und dem entsprechenden Buch einer Hebamme beruht: Jennifer Worth, die der Produktion mit Rat und Tat zur Seite stand, bei den Dreharbeiten dabei war und so dafür gesorgt hat, dass Heidi Thomas („Upstairs, Downstairs“) die Sets, Kostüme und Dialoge so originalgetreu wie möglich gestalten konnte. Bittere Pointe, dass Worth vor der Ausstrahlung der ersten Folge gestorben ist und so ihre fürs Fernsehen adaptierte Lebensgeschichte selbst nicht mehr sehen konnte.

Aber alles, was sie über die vielen Familien und die Umstände, in denen damals Kinder gezeugt und geboren wurden, sagen wollte, konnte sie so noch sagen. Und vieles, was in den Episoden, die sich meist um einzelne Fälle drehen, sonst untergegangen wäre, ließ sich im großen Bogen erzählen, den die Geschichte der Nonnen und ihres Hauses sowie die Storys der Hebammen bilden: Über Demenz etwa, denn eine ältere Nonne hat zunehmend Schwierigkeiten mit der Realität. Über Klassenunterschiede etwa, denn „Chummy“ Browne (Miranda Hart in einer erträglichen Rolle — die Frau kann schauspielen, wenn sie will) will Hebamme werden, trotz einer Herkunft aus der Oberschicht, die sie alles andere als prädestiniert für diesen Beruf.

Vor allem aber über eben Familiengründung: Denn Nurse Lee (deren älteres, heutiges Ich mit der Stimme von Vanessa Redgrave qua Voice Overs Anfang und Ende jeder Folge kommentiert) hat selbst ihre Probleme mit der Partnerwahl, damit, sich zu verlieben und jemanden in ihr Leben zu lassen. Sich mit ihr zu identifizieren, ist recht leicht, und das ist der billante Kniff der Serie: so steht eine Figur im Zentrum, die selbst weit davon entfernt ist, Kinder zu kriegen — und schon ist die Distanz zu all dem Kinderkriegen geschaffen, die diese Serie auch für Kinderlose interessant werden lässt.

Auch „Call The Midwife“ sagt, siehe oben, etwas über die Gegenwart und darüber, wie es ums Kinderkriegen heute bestellt ist (auch wenn man nichts darüber erfährt, wie schwierig ist es, einen Kitaplatz in München zu kriegen). Wenn es das nicht täte, könnte man als Zuschauer auch nicht daran anschließen, dann würde die Serie auch nicht zu einem sprechen. Aber das tut sie, laut und deutlich.

Dabei strotzt „Call The Midwife“ natürlich nur so von positiven Botschaften. Wie sollte das auch anders sein: Die Serie ist für den Mainstream gedacht, und sie bedient ihn, wie ihn „Downton Abbey“ bedient: mit dem großen Gestus des Period Dramas. Es geht um den Zusammenhalt, es werden Vorurteile gegen Farbige überwunden, die Medizin macht Fortschritte, große sogar, weil sie ja noch so rückständig ist, und selbst wenn Nonnen vom Glauben abfallen und sich zögernd, aber doch mählich wieder einem weltlichen Leben zuwenden, verlieben und heiraten, bleiben sie nichtsdestoweniger in der großen Gemeinschaft ihrer Lieben.

Aber „Call The Midwife“ schafft es trotzdem, ehrlich zu bleiben (etwas, woran viele deutsche Fernsehserie brutal scheitern): Nicht jeder Bomben-Blindgänger (die Story des Weihnachts-Specials) kann entschärft werden, Kriegs-Traumata (hier die des Korea-Kriegs) bleiben unbehandelbar, und Kinderlähmung ist eben Kinderlähmung. Nicht jedem kann geholfen werden, und Trauer gehört zum Leben genau wie Freude. „Call The Midwife“ ist, abermals wie „Downton Abbey“ (und „Upstairs, Downstairs“ von Heidi Thomas war ja nun der Vorgänger von „Downton Abbey“), gut darin, Kitsch zu vermeiden — na ja, weitgehend jedenfalls.

„Call The Midwife“ wäre also genau die Serie, die sich Tobias Rüther fürs deutsche Fernsehen wünschen würde. Leider hat das aber nur die lustige Nonnentruppe von „Um Himmels Willen“ zu bieten.