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Pur und vom Feinsten

Es ist immer ein bisschen problematisch, autobiographische Geschichten für Film und Fernsehen in Form zu bringen. Die Historie folgt eben keinen dramaturgischen Gesetzmäßigkeiten, und vieles, was im wahren Leben einleuchtend und selbstverständlich erscheint, bedarf on screen einer eigenen Motivation, um nicht zu irritieren.

Das gilt umso mehr, wenn es nicht ein Zeit-, sondern ein Krankheitsverlauf ist, der einer Fernsehserie zugrunde liegt. Wie eben in „Pure“ (Channel 4, 2019). „Pure“ beruht auf der wahren Geschichte und dem gleichnamigen autobiographischen Buch von Rose Cartwright, die bei der Fernsehfassung als Associate Producer geführt wird und auch beim Casting mitreden durfte (ich komme gleich darauf zurück). Die zur Rede stehende Krankheit ist OCD, und zwar eine besonders „reine“ Ausprägung davon (die medizinisch, glaube ich, umstritten ist); auf deutsch: eine Zwangsstörung.

Unter dieser Zwangsstörung leidet die 24jährige Marnie (Charlie Clive). Sie ist einem permanenten Störfeuer ihres eigenen Hirns ausgesetzt, das sie zwingt, sich sexuelle Handlungen mit praktisch allen Menschen vorzustellen, mit denen sie im Alltag zu tun hat — und zwar im gleichen Moment. Ganz besonders in stressigen Situationen. Zwangsvorstellungen, die ihr das Leben so sehr zur Hölle machen, dass sie nach einem besonders peinigenden Moment bei einer Familienfeier abhaut: Weg aus Schottland, ab nach London, wo niemand sie kennt.

Dort nun bekommt sie es bei ihrem ersten Versuch als freier Erwachsener mit den typischen coming of age-Problemen zu tun — PLUS den Vorstellungen, denen ihre Impulskontrolle nur bedingt gewachsen ist. Sie hat prompt Sex am Arbeitsplatz, trinkt, um den Stress irgendwie abzubauen, und hat bald die schönsten Verwicklungen am Hals.

Charlie Clive ist dabei die beste vorstellbare Besetzung und eine wahre Entdeckung. Sie ist die perfekte Mischung aus jugendlicher Unschuld, der man sofort alles verzeihen möchte, was sie aus schwer steuerbaren Impulsen heraus tut (und zerstört), und früh-erwachsener Persönlichkeit, die Verantwortung übernehmen sollte und muss für das, was sie anrichtet. Sie ist nicht das manic pixi dream girl, das in der Hollywoodversion dieser Serie von Zooey Deschanel gespielt werden müsste, sie ist keine männliche Autorenphantasie, sondern ein realer Mensch mit handfesten Problemen — und doch gleichzeitig charmant, jung, hübsch, begehrenswert.

Eine Gratwanderung, denn das Problem in dieser konkreten Variante autobiographischer Fiktion ist natürlich, dass wir den inneren Konflikt unserer Heldin sofort verstehen, der äußere aber schnell schwierig werden kann: denn klarerweise richtet Marnie genügend an, damit ihre Vorgesetzte, die Frau, die ihr den Job verschafft hat, alle, mit denen sie Sex hat, ihr böse sein können — aber was für Arschlöcher müssen das sein, wenn sie über Marnies Krankheit bescheid wissen und ihr das nicht zugute halten? Also muss Marnie zugunsten der Dramaturgie ihre Krankheit möglichst geheim halten oder darf jedenfalls nicht sofort damit herausrücken — sonst sind alle Konflikte, in die sie gerät, schon zu ihren Gunsten entschieden. Böse kann man ihr nur sein, wenn man nichts von ihrer Krankheit weiß.

Aber Charlie Clive kriegt es hin, und das mag einen Grund haben: Denn sie hat Erfahrung mit schwerer Krankheit und einem komischen Umgang damit. Sie hat selbst über ein Jahr unter einem Hirntumor gelitten, der die längste Zeit unentdeckt geblieben war — und später eine Zweimann-Comedyshow für das Fringe-Festival in Edinburgh daraus gemacht: „Britney“. In ihr hat sie die Erfahrung verarbeitet: als junge Frau ihren Aufenthalt in den USA abbrechen zu müssen, wo sie keine bezahlbare medizinische Betreuung finden kann, und zurück zu ihren Eltern nach Großbritannien zu ziehen. Dort wird ihr ein golfballgroßer Tumor entfernt.

Eine Erfahrung, die sie prädestiniert für die Rolle der Marnie; eine Erfahrung, die offenbar auch Rose Cartwright beim Casting für diese Rolle sofort bemerkt hat.

So ist aus „Pure“ eine Serie geworden, die eine psychische Erkrankung mit komischen Mitteln thematisiert, ohne dass je Scherze über die Krankheit gemacht würden. Ein absolut ernstes Thema, in einer Comedy angemessen repräsentiert. So gehen Serien, die man im Kopf behält. Und selbstverständlich blendet Channel 4 am Ende jeder Folge Kontaktdaten ein für Menschen, die sich von den dargestellten Konflikten angesprochen fühlen.

Gute Unterhaltung — und mehr als Unterhaltung. Alles, wofür ich britische Serien mag.

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