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„Even the one with Joey!“

10. März 2019 3 Kommentare

Eine gute Idee erkennt man daran, dass sie einem so naheliegend erscheint, dass man sich fragt, warum noch niemand früher darauf gekommen ist. Rufus Jones‘ neue Sitcom „Home“ (Channel 4, soeben angelaufen) ist so ein Fall.

Der aus Syrien geflüchtete Sami (Youssef Kerkour), der sich im Kofferraum einer britischen Mittelschichtsfamilie versteckt über den Kanal nach Großbritannien schmuggelt und dort von der großherzigen mater familias Katy (Rebekah Staton, „Raised by Wolves“) Obdach erhält, gegen den Willen ihres Freundes Peter (Jones), das ist ein Ansatz, mit der derzeitigen Weltlage umzugehen, mit Flucht und Umgang mit Flucht, der gleichzeitig aktuell und absolut klassisch ist: denn das ist das Rezept, das von „ALF“ bis „Pumuckl“ immer das gleiche ist.

Oder eben bei „Paddington“, den Peter selbst zur Sprache bringt: „He’s not Paddington!“ O doch, das ist er. Gut ausbalanciert ist das Verhältnis der Figuren in „Home“, denn Peter ist nicht etwa Ehemann von Katy, sondern ihr neuer Freund. Es ist ihr Haus, ihr Sohn, sie kann Peter ganz leicht in die Schranken weisen (oder sogar aus-), und die Ähnlichkeit zwischen Peter und Sami wird offensichtlich, als beide die Nacht auf je einem Sofa im Wohnzimmer verbringen müssen, obdachlos gemacht von Mächten, denen sie schutzlos ausgeliefert sind.

Und so resultieren viele Witze weniger aus der Fremdheit Samis in seiner neuen Umgebung als aus seiner Ähnlichkeit mit ihr: Er ist Englischlehrer wie Katy, und er liebt, klaro, England ohnehin: „Winston Churchill! Elizabeth II.! Top Gear! Even the one with Joey!“ Ja, wir stehen Geflüchteten nicht mehr gegenüber wie die Familie Tanner ALF, wir wissen eigentlich ganz gut, wer sie sind und wie.

Bislang hat „Home“ noch keinen großen Widerhall gefunden, aber es ist ja auch noch früh. Die erste Folge gibt Anlass zur Hoffnung, hier komme mal wieder eine große kleine Sitcom aus Großbritannien, eine vom Zuschnitt „Lead Balloons“ etwa, „Fresh Meat“ oder „Extras“ (ich fürchte mich, btw, etwas vor Gervais‘ neuer Serie „After Life“ — jemand schon was gesehen davon?) — an diesen Serien hat Rufus Jones nun auch schon mitgeschrieben, also ist diese Hoffnung am Ende nicht ganz unberechtigt.

Was ich bei Open Mics gelernt habe

Freund T., seit 20 Jahren als Comedyautor gut bis sehr gut im Geschäft, will es nun wissen: Wie es ist, selbst auf der Bühne zu stehen und Stand Up zu machen. Also habe ich ihn zu ein paar Open Mics begleitet, und das war nicht uninteressant.

Nun muss man wissen, dass Comedyautoren hin und wieder gezwungen sind, ihr eigenes Material „vorzutanzen“: wenn es gilt, Produzenten, Redakteure, Protagonisten davon zu überzeugen, dass Nummern so funktionieren, wie man sie als Autor geschrieben hat. Ich persönlich hasse das, denn ich habe mich ja nicht ohne Grund hinter den Bildschirm zurückgezogen. In meinem Kopf funktionieren alle meine Sachen, sonst würde ich sie nicht abschicken. Aber sie funktionieren für den, für den ich sie schreibe, und nicht zwangsläufig auch für mich. Ich werde meinen eigenen Witzen nicht gerecht, wenn ich sie selbst vortrage — also vermeide ich das, wo es geht.

Freund T. aber ist sehr gut im Vortanzen, hat eine Präsenz, die mir vollkommen abgeht, und das Talent, viel Material tatsächlich aus dem Stegreif zu entwickeln. Wo ich stundenlang sitze, spricht er ganze Nummern auf Band und ist nach zehn Minuten fertig — mit zehn Minuten Material. Beneidenswert. Naheliegend also, dass er den Schritt auf die Bühne macht.

Weitaus weniger naheliegend schien dieser Schritt mir für viele andere Nachwuchs-Comedians, die ich bei diesen Open Mics gesehen habe. Logischerweise will ich nun hier nicht Maßstäbe anlegen, die für Profis gelten — bei diesen Open Mics gehen Menschen ja zum allerersten Mal auf die Bühne.

Aber ich habe einige sich wiederholende Fehler gesehen, die offenbar keine individuellen Schwächen sind, sondern Anfängerfehler im genuinen Sinn. Die größten Fehler sind:

1. Kein roter Faden. Nichts ist schlimmer, als von einem Einfall zum nächsten zu springen, ohne sie irgendwie zu verknüpfen. Nach dem zweiten Gedankensprung schalte ich als Zuschauer ab. Gags, die jeweils eine längere Rampe brauchen, um mit einer einzigen ggf. nicht mal so guten Pointe abzuschmieren, sind wertlos. Viel besser sind sich entwickelnde Gedanken zu einem Thema, ganz egal, ob das nun ein „wirklich wahres“ Erlebnis ist oder ein Gedankenexperiment.

(Apropos: Die Wendung von der „wirklich wahren“ Geschichte schien mir arg überstrapaziert bei diesen Open Mics — als ob es eine Rolle spielen würde, ob etwas so oder so ähnlich oder gar nicht passiert ist. Tut es allenfalls, wenn man eine Geschichte zwar als wahr einfädelt, dann aber in erkennbar nicht wahre Gefilde abgleitet und so sein Publikum in die Irre führt — was selbstverständlich nie der Fall war bei den Open Mics.)

2. Publikumsinteraktionen. Viele Comedy-Anfänger, vor allem die Moderatoren solcher Abende, setzen darauf, ihre Schlagfertigkeit im Dialog mit dem Publikum unter Beweis stellen zu wollen. Das geht oft schief, weil sie dabei einfach ihre überlegene Position auf der Bühne ausnutzen, von der herab sie Leuten über den Mund fahren und Störer zu weiterem Stören ermutigen. Noch billiger: sich mit denselben Zuschauern unterhalten wie der Comedian zuvor. Das interessiert mich nicht im Geringsten. Ich will nichts vom Publikum hören (und kann es oft rein akustisch nicht hören), sondern von dem Comedian auf der Bühne. Publikumsinteraktion ist nur ein Weg, Zeit zu schinden und Zuschauer für sich zu gewinnen, ohne Material zu haben. Die wenigsten sind wirklich gut darin.

Hier zeigte sich auch der große Unterschied zwischen Moderatoren und Comedians und dass beides je eine Kunst für sich ist. Ein guter Comedian muss nicht zwangsläufig ein guter Moderator sein, und umgekehrt. Eine Binse, die ich aber so deutlich noch nie vor Augen geführt bekommen habe.

3. Sein Material nicht weiterentwickeln. München hat offenbar eine nicht allzu große Open Mic-Dichte für Comedy-Anfänger. Also trifft man die selben Stand Upper wieder. Und muss feststellen, dass sie ihr Material nicht entwickelt haben, sondern mit den gleichen Pointen an denselben Stellen auf die Nase fallen. Warum? Ist ausbleibende Reaktion kein Indiz dafür, dass ein Witz nicht funktioniert? Sollte man dann nicht etwas anderes probieren?

Was allerdings eine ganze Handvoll Comedians bei den Open Mics ausgezeichnet hat, war ein Mutterwitz, der nacherzählbare Pointen zum Teil sogar ersetzt hat. Ich höre lieber jemandem zu, der mit Hingabe eine vollkommen absurde Geschichte erzählt und dabei zwar Pointen liegen, dafür aber seinem Wahnsinn freien Lauf lässt, als jemandem, der ohne große Persönlichkeit halbgute Witze erzählt. Unverwechselbarkeit, sich verwundbar machen dadurch, dass man Angriffsfläche bietet (ein schwuler Bulgare, ein adipöser Farbiger mit bunten Fingernägeln), unaufgesetzte Schrägheit goes a long way.

Das hat mich sogar am meisten interessiert, denn das kann ich jemandem als Autor nicht auf den Leib schreiben. Das muss schon vorher da sein. Das ist die Anlage, auf die man etwas bauen kann. Als Comedian und als Autor.

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Zurück in der dritten Dimension

Vor fünf Jahren habe ich hier über „The Missing“ (BBC1, 2014 – 16) geschrieben und über „The Affair“ (Showtime, seit 2014), zwei Serien, die mit konventionellen Erzählweisen gebrochen hatten, um experimenteller zu verfahren: „The Affair“ mit den unterschiedlichen Perspektiven der Protagonisten auf die gleichen Ereignisse, was dazu führte, dass oft in der ersten Hälfte einer Folge die Ereignisse aus der Sicht der einen Hauptfigur erzählt wurden, und in der zweiten die gleichen Ereignisse aus Sicht der anderen Figur manchmal ein bisschen, manchmal doch recht anders aussahen.

„The Missing“ dagegen sprang zwischen den Zeitebenen hin und her, wie es zuletzt „True Detective“ (HBO, seit 2014) in der dritten Staffel gemacht hat (sehr erfolgreich, die dritte dürfte die beste Staffel der Serie gewesen sein).

Nun habe ich schon damals, wie es so meine Art ist, ein bisschen geunkt: dass diese Experimente zwar produktiv, aber auch gefährlich sein können. Gefährlich, weil sie den Zuschauer schnell ermüden, wenn sich das Neue an solchen Gimmicks abgenutzt hat, wie der unzuverlässige Erzähler in „The Affair“ es ist. (Interessanterweise kam „True Detective“ ja nun auch noch darauf, genau diesen unzuverlässigen Erzähler auch noch einzusetzen, und hat damit aber voll ins Schwarze getroffen.)

„The Affair“ und „The Missing“ aber: haben diese Experimente wieder eingestellt.

„The Affair“ wurde im Laufe der Staffeln immer konventioneller; mittlerweile erzählt die Serie oft einzelne Episoden mit je einer ihrer vielen Figuren im Mittelpunkt, wie es ungezählte andere Serien auch tun. „This Is Us“ etwa; auch hier gibt es zwar Rückblenden, die Experimente aber, Figuren aus der Vergangenheit plötzlich in die Gegenwart zu versetzen, hat aber auch „This Is Us“ schnell wieder sein lassen.

Von „The Missing“ aber gibt es nun einen Spinoff, der zwar „Baptiste“ heißt (BBC1, drei Folgen seit Mitte Februar), aber im Grunde doch „The Missing“ ist — mit dem großen Unterschied, dass nun wieder der klassische Ermittler im Mittelpunkt steht, der Maigret oder Poirot der Gegenwart: der alternde (nicht belgische, aber) französische Ex-Kommissar Julien Baptiste (Tchéky Karyo), der auch in „The Missing“ schon ermittelt hat. Und nicht etwa die Opferangehörigen.

Baptiste ermittelt nämlich auch in „Baptiste“ wieder einem verschwundenen Mädchen hinterher, dessen Onkel ihn um Hilfe bittet; diesmal in Amsterdam. Und es ist so fesselnd wie „The Missing“ es in beiden Staffeln auch schon war.

Ohne nun allzu viel zu spoilern: Es gibt selbstverständlich dennoch interessante Perspektivwechsel, allerdings mehr, was unsere Wahrnehmung einer der zentralen Figuren angeht, nämlich Edward Stratton, gespielt vom brillanten Tom Hollander. Der ist sehr gut in freundlich-harmlosen Rollen (etwa in „Rev.“, BBC2 2010 – 14, neben Olivia Colman), kann aber auch schillernd bösartig spielen, wie man etwa in „The Night Manager“ (BBC1, 2016) sehen konnte.

„Baptiste“ ist also konventioneller als „The Missing“, aber das ist nichts schlechtes. Ganz im Gegenteil. High Concept fesselt zwar auf die schnelle das Publikum, aber solides, altmodisches Erzählen erweist sich doch fast immer als tragfähiger, wenn man langfristig denken möchte. Und bei Serien, selbst wenn sie staffelweise so abgeschlossen sind wie „The Missing“, ist das die bessere Wette.

Guilty Pleasure

21. Februar 2019 Keine Kommentare

Ja, ich gebe es zu: Ich sehe sehr gerne diese ganzen historischen Adelsdramen britischer Provenienz: „The Crown“ (Netflix, seit 2016) etwa, oder derzeit die dritte Staffel „Victoria“ (ITV, ebenfalls seit 2016).

Eine Leidenschaft übrigens, bei der mich die Frau, ansonsten „Downton Abbey“ nicht abgeneigt, dann doch schön alleine lässt; zu sehr geht ihr die Feudalismusverherrlichung gegen den Strich. Und natürlich hat sie recht: So wie Krimis das Narkosemittel der Bürokratiegesellschaft sind, ist diese Aristokratieanbetung die Rechtfertigung einer ständischen Gesellschaft.

Aber wenn diese Serien dann eben die ganzen Königinnen und ihre mehr oder weniger schwachen Männer (Albert, das empfindsame Würstchen aus Coburg! Prinz Philip, der ewig an seiner Bedeutungslosigkeit knabbernde Möchtegernplayboy!) so menschlich zeichnen! Wie soll man da kein Herz für die Monarchie entwickeln.

Das ich ja ohnehin habe. Denn ich finde das Konzept, dass sich ein Volk eine Familie von Arbeitslosen hält, die sie in einem Schloss ausstellt und zur Anbetung freigibt, eigentlich ganz überzeugend. Überzeugender jedenfalls als die deutsche Lösung, sich stattdessen einen bürgerlichen Grüßaugust von Bundespräsidenten in ein Schloss zu setzen, dem der göttliche Auftrag zum Faulenzertum völlig fehlt.

Der sogar gewählt wird! Braucht man denn zur absoluten Faulheit ein demokratisches Mandat?!

Nein, so lange die parlamentarische Demokratie funktioniert — und die englische ist ja nun mal sogar die älteste der Welt, wenn ich mich nicht täusche –, finde ich diese Idee sehr schön: Wer will nicht so sein wie diese Langzeitarbeitslosen, die es sich auf Kosten des Staates ein Leben lang gut gehen lassen! Die vorleben, dass man in der sozialen Hängematte leben kann wie die Made im Speck und Kinder kriegen wie die Kaninchen! Victoria hatte allein, das lernt man dann nebenbei eben auch, sieben Stück.

Das finde ich sehr gut, und ich sehe Jenna Coleman beim höfischen Ausdemfenstergucken genauso gerne zu wie ich Claire Foy dabei zugesehen habe, die in „The Crown“ ja nun offenbar von Olivia Colman abgelöst werden soll.

Weiter so, mehr davon, ich gucke das alles weg. Lang lebe die Monarchie!

Aha!

9. Februar 2019 Keine Kommentare

Ich bin sehr gespannt.

Die Banalität des Guten

5. Februar 2019 Keine Kommentare

Als „Bürokraten mit Waffen“ beschreibt der Anthropologe David Graeber in seinem Buch „Bürokratie. Die Utopie der Regeln“ (Klett-Cotta 2016) Polizisten und erklärt den enormen Bedarf unserer Gesellschaft an Polizei- und Kriminalfiktion ganz schlicht mit dem Fetisch, der unser aller Leben mehr bestimmt, als wir es gerne wahrhaben möchten: mit Bürokratie.

Will heißen: Graeber diagnostiziert — noch bevor er sich in seinem nächsten Buch explizit auf die „Bullshit-Jobs“ stürzt, die einen Gutteil der aktuellen Lohnarbeit ausmachen — eine horrende Verwaltungsapparatur am Werk, die uns verpflichtet, Regeln zu befolgen, die wir nur noch zu einem Bruchteil verstehen (Steuererklärung, „Akzeptieren“-Buttons, Mobilfunkverträge, Altersvorsorge, Projektmanagement), und dann Berichte über die Ausführung von Regeln und die zukünftige Anwendung von Regeln anzufertigen, was im Wesentlichen alle in den Wahnsinn treibt, auch wenn sie es nicht merken.

Allein dass Universitätsmitarbeiter mittlerweile einen beachtlichen Teil ihrer Arbeitszeit nicht mehr mit Forschen und Lehren verbringen, sondern mit Anträgen und Verwaltung, die auch die Ergebnisse noch gar nicht begonnener Untersuchungen schon im Vorhinein wissen möchten, um finanzielle Mittel zu bewilligen, sollte einen zum Haareraufen bringen: denn das bedeutet nichts anderes, als dass sich die Wissenschaft längst der Verwaltung, dem Bürokratentum gebeugt hat und von ihm abhängig ist statt andersherum.

Graeber kaut auf diesem Gedanken mit den schönsten Ergebnissen herum, aber mich haben vor allem seine Ausführungen zur Popkultur fasziniert und seine Erklärung, warum Science Fiction in den Sechzigerjahren eines der bestimmenden Genres war (und warum die Föderation in „Star Trek“ im Prinzip eine leninistisch-kommunistische Militärdiktatur abbildet), es aber seit dem Übergang einer produktionsbestimmten Gesellschaft in eine Informationsgesellschaft eher ein anderes Genre ist, das uns begeistert: nämlich Krimis.

Denn der Siegeszug von immer demokratischeren Modellen brachte ein Problem mit sich: Die Frage, was das Volk eigentlich will. Datenerhebung, Auswertung, Verwaltung, Gremien, Meetings, „Management“. Anträge, Projektbeschreibungen, Kästchenankreuzerei. Mit einem Wort: immer überbordendere Bürokratie — die sogar das Militär schlussendlich in die Knie zwingt, siehe die derzeitigen Probleme bei der Bundeswehr. Von der Deutschen Bahn mal ganz abgesehen. Oder von Bauprojekten (BER, Stuttgart 21). Es ist die Verwaltung, endlose sinnlose Aktenschubserei, die letztlich alles lahmlegt, die man aber nie wieder los wird, wenn sie sich erst einmal das System unterworfen hat. Die Dirigenten haben das Orchester übernommen, und mittlerweile kommen zwölf Dirigenten auf einen Bratschisten.

Der bewaffnete Arm des demokratischen Staates, der die Durchsetzung von Regeln zur Aufgabe hat, ist der Polizist. Er ist viel mehr mit der Aufgabe betraut, über die Einhaltung der öffentlichen Ordnung zu wachen — und, selbstverständlich, ebenfalls Berichte, Berichte, Berichte zu schreiben. Das nimmt einen viel größeren Teil seiner Arbeitszeit ein als eventuelle Verfolgung von schießwütigen Ganoven oder überhaupt tatsächliche Gewalttätigkeit. Die Hauptaufgabe eines Polizisten ist die Informationsbeschaffung: für seinen Vorgesetzten, für die Staatsanwaltschaft, für die Gerichte.

(Dort, wo die Informationsbeschaffung heimlich zu geschehen hat, ist der Spion zuständig — ein eigenes, dem Krimi aber anverwandtes Genre in der Popkultur.)

Kein Wunder also, dass der Polizist, der Ermittler, der Held unserer bürokratiegeprägten Zeit ist, dem ein nicht zu unterschätzender Teil der Bildschirmzeit im deutschen Fernsehen gehört.

Und umso bedauerlicher, dass wenige Krimis diesem Umstand Rechnung tragen.

Das wurde mir — ich bin wahrlich kein Fan von Krimis — einmal mehr deutlich, als ich gestern den ITV-Dreiteiler „Manhunt“ (2019) gesehen habe, in dem ein wahrer Fall von Anfang der Nullerjahre aufgerollt wurde: der scheinbar wahllose Mord an einer jungen Französin in London, der zur Aufdeckung einer ganze Mordserie an jungen Frauen führte.

Im Mittelpunkt von „Manhunt“ steht der ermittelnde Inspektor (Martin“Doc Martin“ Clunes als DCI Colin Sutton), der so anders ist als andere vergleichbare Kriminaler, dass es eine Wohltat ist: nüchtern, unaufgeregt, sachlich. Weit entfernt von der toxischen Maskulinität eines „Luther“, die in Krimis oft die Heldenhaftigkeit ihrer Hauptfigur illustrieren soll. An Colin Sutton ist nichts Heldenhaftes. Er ordert die Auswertung aller verfügbaren Überwachungskameras in einem riesigen Areal, auch wenn es zehn Beamte drei Wochen in Anspruch nimmt, Bildmaterial auszuwerten, von dem man nicht einmal weiß, was man darauf sucht. Wenn 25.000 weiße Lieferwagen überprüft werden müssen, müssen eben 25.000 weiße Lieferwagen überprüft werden. Wenn Taucher einen halben Fluss nach einem Handy absuchen müssen, muss die Einheit eben den halben Fluss absuchen. Und wenn eine Supermarktquittung von vor vier Jahren ein wichtiges Indiz ist, muss im Supermarktbüro eben auf riesigen archivierten Quittungsrollen nach diesem einen Bon gesucht werden, auf dem 41,35 Pfund für Windeln, Reis und Olivenöl draufstehen.

Es ist, mit anderen Worten, die Banalität des Guten, die hier am Werk ist. Am Ende stellt sich heraus, dass die Mordserie schon vor den letzten Toten hätte beendet werden können, wenn sich nicht ein  — selbstredend bürokratischer — Fehler eingeschlichen hätte.

Dass der Täter ein Monster ist, wird dabei nur sehr am Rande thematisiert: das versteht sich von selbst. Warum er ein Monster (geworden) ist, ist vollkommen unwichtig. Die familiäre Belastung, die dieser Fall für Sutton darstellt, lässt ihn selbst kalt — er ist der preußischste Beamte des Vereinigten Königreichs. So beamtisch, dass er beinah blass wirkt. Die Dramaturgie ist klug genug,  genau diese trockene Ermittlerarbeit zu problematisieren, denn Sutton eckt mit seiner peniblen Art bei Untergebenen wie Vorgesetzten selbstverständlich an.

Aber wenn schon Krimi, dann so: keine Psychologie, keine persönlichen Motive zwischen Täter und Ermittler (wie sie längst nicht mehr nur in Thrillern zuhause sind); wenn schon deutsche Krimis, dann lieber Derrick als Nick Tschiller. Da weiß man wenigstens, dass Horst Tappert in der Waffen-SS war, bevor er so knochentrocken im Münchener Reichenmilieu ermitteln durfte. Die Staatsformen ändern sich, ihre Identifikationsfiguren bleiben gleich.

Gute Krimis aber legen ihre Bürokratenverherrlichung offen. Über die Wucherungen dieser staatlichen Gewalt, die in Großbritannien etwa eine ubiquitäre Videoüberwachung mit sich gebracht hat, darf man da freilich entsetzt sein: Omnibusse mit Kameras, die nicht nur das Innere, sondern auch den Verkehr vor und hinter dem Bus aufzeichnen etwa. Dass man als Zuschauer aber gezwungen ist, diese überwachungsstaatliche Perspektive einzunehmen und sehr stark für Totalüberwachung zu sein, weil sie die Verstöße gegen ihre staatlichen Regeln verfolgen hilft: das ist lobenswert, denn erst dieser innere Konflikt hält mich als Krimizuschauer überhaupt wach.

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